Mehr als Körper: schwule Beziehungen zwischen Intimität, Lust und Sehnsucht

Bettina Disler's Blog

Männerpaare in der Paartherapie

In meiner Praxis begegnen mir immer wieder Männerpaare, die nicht nur ihre Beziehung vertiefen, sondern auch ihre Sexualität besser verstehen und leben wollen. Gerade in der schwulen Community zeigen sich dabei sehr spezifische Herausforderungen, Intimität neu zu denken.

 

 

Wenn zwei Bottoms sich verlieben

Was auf den ersten Blick wie ein sexuelles Detail erscheint, ist in Wahrheit oft ein zentrales Thema in der Paartherapie: Zwei Männer verlieben sich, sind jedoch beide mit einer sogenannten Bottom-Präferenz, das heisst, beide empfangen beim Sex lieber Penetration. In der Folge entsteht nicht selten Unsicherheit, Frustration oder ein ausbleibendes sexuelles Miteinander. Denn was beide sich vom Sex wünschen, will der jeweils andere nicht geben. So wird Lust zur Quelle von Spannungen, statt zur Verbindung. 

Der Begriff Versatile beschreibt Männer, die sowohl die aktive (Top) als auch die passive (Bottom) Rolle beim Sex einnehmen wollen. Beim Flipfuck wechseln zwei Männer während einer einzigen sexuellen Begegnung bewusst die Rollen, spontan und spielerisch. Es beschreibt also nicht die Identität, sondern den sexuellen Ablauf.

Wenn beide Partner jedoch klar Bottom bevorzugen, bleibt die anale Penetration, die oft als zentrale Lustquelle erlebt wird, unerfüllt. Die Frage lautet dann: Welche Bedeutung hat Penetration in der eigenen Sexualität? Gibt es andere Formen von Nähe, Lust und Intimität, die beide erfüllen können? Letztlich entsteht Intimität nicht durch Technik, sondern vor allem durch Präsenz und Verbindung.

 

 

Unterschiedliche sexuelle Vorlieben: wie viel Unterschied hält die Liebe aus?

„Top trifft Bottom“ klingt auf den ersten Blick kompatibel. Doch sexuelle Harmonie ist mehr als nur Rollenzuordnung. Was, wenn ein Partner Kink liebt und der andere Nähe über Berührungen sucht? Wenn einer monogam leben möchte, der andere offen? Oder wenn ChemSex für einen spannend ist, der andere aber Angst hat, dabei emotional verloren zu gehen? Solche Differenzen sind keine Ausnahme. 

Entscheidend ist, ob das Paar einen offenen Umgang damit findet, ohne Scham und ohne Bewertung. In der Paartherapie geht es darum, Räume für Ehrlichkeit zu schaffen. Viele schwule Männer bringen biografische Erfahrungen von Ablehnung, Nicht-Zugehörigkeit oder internalisierter Homonegativität mit, die das eigene Beziehungsleben nachhaltig prägen. Die Folge ist nicht selten stille Anpassung: man spricht nicht mehr über Bedürfnisse, um nicht verlassen zu werden. Doch genau das verhindert echte Intimität. Wer sich zeigen darf, wie er ist, schafft die Basis für eine tiefe Verbindung.

 

 

Warum es schwer ist, verbindliche Beziehungen zu finden

Grindr ist für viele schwule Männer mehr als nur eine Dating-App. Ein digitaler Raum, in dem sie sich gesehen, zugehörig und verstanden fühlen. Gleichzeitig ist Grindr aber auch ein Ort, an dem echte Nähe oft selten bleibt und vor allem schnelle sexuelle Abenteuer gesucht werden. Wer die richtigen Codes erfüllt (Aussehen, Offenheit, sexuelle Bereitschaft etc), wird begehrt. Verfügbarkeit steht über Verbindlichkeit. 

 

 

„Wenn du nicht mitmachst, bist du austauschbar“

Viele Klienten bringen ein unausgesprochenes Thema mit in die Beratung: den subtilen Druck, mithalten zu müssen. Sexuell offen, körperlich fit, poly-erfahren, experimentierfreudig, drogenkompatibel und gleichzeitig emotional reif, empathisch, reflektiert. Dieses Idealbild überfordert. Niemand hält das auf Dauer durch. Der Preis ist nicht selten: sich selbst zu verlieren, um dazuzugehören.

Für Männer, die sich nach echter emotionaler Verbindung sehnen, fühlt sich die Szene irgendwann fremd an, weil sie mehr suchen als flüchtige Begegnungen. In solchen Momenten geht es darum, sich selbst treu zu bleiben und den Wunsch nach mehr Klarheit und Echtheit in Beziehungen offen zu leben. 

 

 

PrEP und was heute Verhütung in der schwulen Community bedeutet

In der schwulen Sexualität spielt Safer Sex seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle, geprägt durch HIV, Aufklärungskampagnen und Community-Erfahrung. Doch mit der Einführung der PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe) hat sich vieles verändert. Wer täglich oder situativ PrEP einnimmt, schützt sich zuverlässig vor einer HIV-Infektion aber nicht vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen. In der Praxis stellen sich damit oft neue Fragen:

 

 

Was bedeutet Verhütung heute im Kontext von PrEP, Vertrauen und offenen Beziehungen?

Viele schwule Männer erleben es als Entlastung, dass Penetration nicht mehr automatisch mit dem Risiko einer HIV-Übertragung verbunden ist. Gleichzeitig entstehen neue Unsicherheiten: 

    • Reicht PrEP als Schutz?

    • Wie offen sprechen wir über Testintervalle, andere STI, oder die Nutzung von Kondomen?

    • Ist es ein Zeichen von Misstrauen, nach Schutz zu fragen?

 

Verantwortung in der Sexualität bedeutet heute mehr denn je, offen miteinander zu kommunizieren. Offenheit darüber ist kein Misstrauen, sondern Ausdruck von Respekt.

 

 

ChemSex: Wenn die eigene Lust über allem anderen steht

In Städten wie Zürich hat die ChemSex-Szene in den letzten Jahren spürbar zugenommen. Substanzen, die sexuelles Erleben intensivieren, werden in einem kollektiven Rahmen konsumiert: als Teilhabe, als Zugehörigkeit, als Wunsch, gemeinsam Grenzen zu überschreiten. Viele Männer erleben das als Befreiung von Scham, von innerer Enge, vom Gefühl, funktionieren zu müssen. Doch was als gemeinsames Happening beginnt, kann bei einigen auch ins Gegenteil kippen: in Isolation und psychischer wie physischer Abhängigkeit: Die Lust steht dann über allem, auch über Kontakt, Achtsamkeit, Selbsterkenntnis. Nähe wird ersetzt durch Intensität, Begegnung durch Rausch. In meiner Praxis begleite ich Männer, die genau diesen Punkt erkennen und sich auf den Weg zurück zu sich selbst machen wollen. 

In einer Welt, in der scheinbar alles möglich ist, wird es immer schwieriger, herauszufinden, was man selbst wirklich will und sich dann zu erlauben, dazu zu stehen. Paartherapie und Sexualberatung für schwule Männer kann dabei helfen, die eigene Sehnsucht ernst zu nehmen und den Mut zu entwickeln, Intimität authentisch zu leben.

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